1. Eine erste Bestimmung: Was sind Schulleistungstests und was sind sie nicht? Und: Was ist eigentlich Schulleistung?

Wenn ein Dozent in einem Diagnostik-Seminar für Lehramtsstudierende fragt, was denn eigentlich im Kontext der pädagogisch-psychologischen Diagnostik alles als Test bezeichnet wird, so werden unter Umständen alle schriftlichen und mündlichen und vielleicht auch handlungspraktischen Prüfverfahren genannt, die im schulischen Kontext üblich sind. Das ist das Ergebnis einer inflationären Verwendung des Testbegriffs, welche von der reinen Wortbedeutung (Probe, Prüfung) her sogar verständlich ist.

Spezieller fassen müssen wir aber den Testbegriff in der Psychologie. Ein Prüfverfahren ohne Konstruktion auf der Basis testtheoretischer Grundlagen und ohne vorherige Erprobung soll nicht als psychologischer Test bezeichnet werden. Damit können wir bereits festhalten: Schulaufgaben oder Probearbeiten (Bezeichnung je nach Schulart) oder Kollegstufen-klausuren im Gymnasium, sowie Stegreifaufgaben oder Extemporalien, praktische Prüfungen in den musischen Fächern Musik, Kunsterziehung oder Sport sowie in Handarbeit, technischem Werken u.ä., die üblicherweise zur Gewinnung von vorgeschriebenen Leistungs-urteilen (Schulnoten) abgehalten werden, sind keine psychologischen Tests. Der in dieser Lehreinheit 10 thematisierte Schulleistungstest, gleich welchen Typs, ist aber ganz eindeutig ein psychologischer Test und setzt sich also von allen üblichen schriftlichen Verfahren zur Notengewinnung ab, auch von den genauso notwendigen und üblichen mündlichen Abfragen sowie praktischen Prüfungen. Die durchaus übliche Bezeichnung "standardisierter Schul-leistungstest" soll das Vorhandensein einer testtheoretischen Basis gewährleisten, sowie eine Orientierung an den Hauptgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität und an den wichtigsten Nebengütekriterien und einem gewissen Mindeststandard in deren Erfüllung (s. Lehreinheit 4: Qualität von Diagnostik). Der Zusatz "standardisiert" scheint mir im Rahmen dieser Lehreinheit entbehrlich zu sein, weshalb er von nun an kaum mehr auftauchen wird, aber bei Verwendung des Begriffs "Schulleistungstest" immer mit gemeint ist.

Dieser Abgrenzung nach Theorie und Konstruktion folgt nun eine Abgrenzung nach dem Inhalt. Bevor wir diese vollziehen können, braucht man noch folgende Klärung:

Es gibt eine große Zweiteilung der psychologischen Diagnostik, nämlich einerseits in Prüfverfahren im Persönlichkeits- und Sozialbereich (Beispiele: Lernmotivationstest, Angsttest, Interaktionsprozessanalyse nach Bales, Soziometrie, s. Lehreinheiten 9 und 10 im Modul "Differentielle Psychologie" und 7 und 8 im Modul "Pädagogisch-psychologische Diagnostik") und andererseits in Prüfverfahren im Leistungsbereich. Zweifellos gehören die Schulleistungstests zum Leistungsbereich. Sie sind innerhalb dieser großen Gruppe zunächst einmal abzusetzen von den bekanntesten Repräsentanten, nämlich den Intelligenztests. Intelligenz ist schließlich ein anderes Konstrukt als Schulleistung (s. Lehreinheiten 2, 3 und 4 im Modul "Differentielle Psychologie"). Ebenso wenig gehören sie zu den sogenannten Allgemeinen Leistungstests (Konzentrations- und Aufmerksamkeitstests).

Eine weitere Abgrenzung erfolgt von solchen benachbarten Verfahren, die auch im pädagogischen Feld angewendet werden: Tests im vorschulischen Bereich, etwa zur Erfassung von Vorläuferfertigkeiten des Lesens und Schreibens, oder Einschulungstests (s. Lehreinheit 9) sind ebenso wenig Schulleistungstests wie Leistungstests zum Gedächtnis oder auch zur Verfügbarkeit des Wortschatzes im geronto-psychologischen oder im klinisch-psychologischen Kontext.

Eine schematische Darstellung der terminologischen Unterscheidungskriterien zur nachbar-schaftlichen Abgrenzung des Schulleistungstests findet sich in Tabelle 10.1.

Tabelle 10.1: Schulleistungstests in der Nachbarschaft von Verfahren zur Leistungsprüfung, die in der pädagogisch-psychologischen Diagnostik beschrieben und erforscht werden (nicht einbezogen sind die verwendeten Verfahren der großen nationalen und internationalen Leistungsvergleiche, weil diese sich hier nicht ohne Weiteres einordnen lassen und zudem den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Moduls nicht zugänglich sind).

Konventionelle Leistungsbeurteilung:

Informeller Schulleistungs-test:

Standardisierter Schulleistungs-test:

Intelligenztests; allgemeine Leistungstests:

Merkmale

Schulaufgaben, Probearbeiten, Stegreif-aufgaben, Oberstufen-klausuren; mündl. Abfrage

z.B. regional orientierte Leistungsstands-erhebungen

normorientierter Schulleistungstest (z.B. DEMAT 4+) oder kriteriums-orientierter Schulleistungstest

Einzel-intelligenztest (z.B. HAWIK IV) Konzentrations-test (z.B. d2)

auf Testtheorie basiert

kaum

wenig

ja

ja

Lehrplan-bezug

ja

ja

ja

nein

von Lehrkräften erstellt

ja

meist

nein, aber mithilfe von Lehrkräften

nein

von Lehrkräften einsetzbar

ja

gut möglich

gut möglich

nein

Klar geworden ist sicher: Schulleistungstests erfassen Schulleistung. Da stellt sich aber noch die Frage: Was ist Schulleistung?

Weinert (2001, S. 76) stellt die provokative Frage:                              "Schulleistungen – Leistungen der Schule oder der Schüler"? Es mag beides gelten. Mit Schulleistungen erfasst werden jedenfalls die individuellen schulischen Kenntnisse und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, und zwar immer operationalisiert nach dem engeren Kontext.

Diese Kenntnisse und Fähigkeiten lassen sich in unterschiedlicher Weise festlegen. Zum einen kann man das mit dem jeweiligen Lehrplan tun, also schultyp-, schulfach- und jahrgangsspezifisch. Zum anderen können auch über Schularten und sogar Ländergrenzen hinweg Konstrukte gebildet werden, welche die Lern- und Bildungsinhalte kristallisieren, nämlich die in den internationalen Vergleichsstudien benötigten Kompetenzen, in der PISA-Studie die Bereiche Lesekompetenz (Reading Literacy), mathematische Grundbildung (Mathematical Literacy), naturwissenschaftliche Grundbildung (Scientific Literacy) und fächerübergreifende Kompetenzen (Cross-Curricular Competencies) (Baumert, Stanat & Demmrich, 2001, S. 15/16). Das sind Konstrukte, welche die kognitive Durchdringung durch die Schüler und Schülerinnen meinen, häufig geprüft mit lebenspraktischen Fragestellungen, weltweit einsetzbar und eben nicht eng lehrplanorientiert (s. auch Arnold, 2001).

Der Begriff des Schulleistungstests in dieser Lehreinheit ist an der ersten dieser beiden Möglichkeiten orientiert, also eindeutig lehrplanbezogen und damit nah an der jeweiligen Schulrealität. Das hat Vorteile und Nachteile. Der Vorteil liegt in der konkreteren und breiteren Verwertbarkeit der Ergebnisse (s. Kapitel 6). Ein Nachteil liegt in der dadurch gleichzeitig entstehenden Enge des Anwendungsbezugs, weshalb ja für die länderüber-greifenden Studien das Kompetenz-Konzept herhalten muss.

Weil also der Lehrplanbezug hier eine so große Rolle spielt, wird er in Unterkapitel 2.1.3 noch einmal hervorgehoben. Eine andere Entwicklung soll hier noch genannt werden. Es gibt bei den Schulleistungstests zunehmend Differenzierungen, die über eine bloße Prüfung der Leistungsmenge hinausgehen und Basisvariablen der geprüften Schulleistung angehen, welche zu Stütz- und Fördermaßnahmen und bei wissenschaftlichen Studien für grund-sätzliche Erklärungen verwendbar sind (s. etwa Wilhelm & Kunina, 2009). Das ist aber keine Alternative, sondern eine Bereicherung.