2. Formen der Minderbegabung

2.2 Lernbehinderung

Gemäß den Statistiken der Kultusministerkonferenz wurden im Jahr 2018 insgesamt etwa 175.000 Schüler und Schülerinnen dem „Förderschwerpunkt Lernen“ zugerechnet (KMK, 2018). Das entspricht einem Anteil an der Gesamtschülerschaft von etwa 2,4 % (KMK, 2018), Während noch 2005 die meisten dieser Schüler und Schülerinnen in speziellen Förderschulen für Kinder mit Lernbehinderung beschult wurden, betraf das 2017/18 weniger als die Hälfte (86.200 SuS, 49%). Etwa 89.000 (51%) dem Förderschwerpunkt Lernen zugerechnete Schüler und Schülerinnen besuchten nun im Rahmen inklusiver Maßnahmen eine Regelschule. Der Anteil integrativ beschulter Kinder mit Lernbehinderung nimmt deutlich zu. Er betrug 2005 erst 13,9 % (KMK, 2007). Die Gruppe der lernbehinderten Schüler und Schülerinnen stellt mit 32% die größte Gruppe der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf dar (KMK, 2018).

Es fällt dabei nicht leicht, genau zu definieren, was Lernbehinderung ist bzw. welche Personengruppen als lernbehindert eingestuft werden (zusammenfassend s. Elbert & Ellinger, 2006). Die ICD-10 hält hierfür keine Kategorie bereit. Während bei einer geistigen und/oder einer körperlichen Behinderung sehr häufig ein klarer körperlicher Befund, wie z. B. genetische oder organische Ursachen, unfallbedingte Schädigungen etc. vorliegen, sind in aller Regel Kinder mit Lernbehinderungen, Sprachbehinderungen oder Verhaltensauffälligkeiten körperlich gesund.

Verschiedene Autoren aus dem sonderpädagogischen Bereich definieren deshalb Lern-behinderung operational, z. B.:

"Lernbehindert sind Kinder, die eine Sonderschule für Lernbehinderte besuchen" (Klein, 1973, S. 159)

"Lernbehinderung wird vielmehr verstanden als eine derart ausgeprägte, verschärfte Situation negativer Abweichung im schulischen Lernen, dass die Allgemeine Schule, so wie sie im deutschen Bildungssystem existiert, sie nach ihrem Verständnis und Auftrag mit ihren Mitteln und Möglichkeiten (einschließlich zusätzlich aufgewandter Förderung) nicht mehr auf ein erträgliches Ausmaß reduzieren kann und zu tolerieren bereit ist" (Schröder, 2000a, S. 95).

Andere Autoren versuchen Lernbehinderung über die Einschränkung im Lernen zu definieren:

"Als lernbehindert gelten Kinder und Jugendliche, die ein chronisch und durchgehend erniedrigtes schulisches Lernniveau haben, bzw. permanent und relativ umfassend beeinträchtigte schulische Aneignungsprozesse aufweisen" (Kobi, 1980, S. 13).

"Als lernbehindert i. e. S. gelten Personen, die schwerwiegend, umfänglich, langdauernd in ihrem Lernen beeinträchtigt sind und dadurch deutlich normabweichende Leistungs- und Verhaltensweisen aufweisen" (Kanter, 1974, S. 126).

Lernbehinderungen werden in der Regel als überdauernde, umfassende und schwerwiegende Beeinträchtigungen definiert. Eine ungefähre Eingrenzung von Lernbehinderung auf den IQ-Bereich zwischen 65 und 85 gilt als konsensfähig (z. B. Hensle & Vernooij, 2002, S. 189). Diese Angabe muss jedoch mit großer Vorsicht behandelt werden. Zum einen entspricht dieser IQ-Bereich bei normaler Verteilung des IQ einem Bevölkerungsanteil von 14,87 %, also einem Vielfachen des Anteils an tatsächlich als lernbehindert eingestuften Schülern. Zum anderen erklärt ein IQ-Wert nicht, wie Lernprozesse bei einem betroffenen Kind ablaufen und wo konkret Probleme auftreten. Aus psychologischer Sicht darüber hinaus für das Lernen bedeutsam sind unter anderem Probleme im Bereich der Leistungsmotivation(Heckhausen, 1989), des Lernstils bzw. der  Metakognitionund Lernregulation (Schröder, 2000b, S. 647). Betreffende Personen weisen häufiger ungünstige Attributionsmuster im Sinne erlernter Hilflosigkeit (Seligman, 1995, S. 103 ff.) auf, zeigen Leistungsangst (Schwarzer, 2000, insbesondere S. 105-117) und haben auch sonst ungünstiger ausgeprägte Determinantender Schulleistung (z. B. Vorwissenslücken; Helmke & Weinert, 1997). Des Weiteren weist die signifikant höhere Intelligenzvon männlichen Lernbehinderten an Sonderschulen darauf hin, dass die bei Jungen häufiger auftretenden externalisierenden Verhaltensstörungen (Aggressivität, Impulsivität ...) die Stellung der Diagnose "lernbehindert" begünstigen. Allgemeiner ausgedrückt, liegt hier ein „Underachievement“ vor, d.h. die Schulleistungen liegen tiefer, als von der Intelligenz her erwartet werden könnte. -  Dagegen fallen Mädchen, bei denen häufiger internalisierende Verhaltensstörungen vorliegen, in der Regelschule seltener auf, sodass häufig keine weiterführende Diagnostik durchgeführt wird und etwaige Lernprobleme toleriert werden.

Neben dieser Betrachtung von individuellen Leistungsfaktoren ist besonders im Bereich der Lernbehinderung die Einbeziehung soziodemographischer Faktoren notwendig.

Die Tatsache, dass zwischen 80% und 90% der als lernbehindert eingestuften Kinder aus der „Unterschicht“ kommen (s. z. B. Hensle & Vernooij, 2002, S. 192), verweist darauf, dass lernbehinderte Kinder auch soziokulturell benachteiligt sind und an den Anforderungen der eher auf die Mittelschicht zentrierten Regelschule scheitern (Elbert & Ellinger, 2006). 

Umgekehrt betrachtet stellt das Aufwachsen in der „Unterschicht“ einen Risikofaktor für die Ausbildung einer Lernbehinderung dar. Dieser hohe Zusammenhang von Schulerfolg und Schichtzugehörigkeit ist – wie PISA 2000 deutlich zeigte – in Deutschland besonders stark ausgeprägt (Baumert & Schümer, 2001, S. 379 ff.). In den nachfolgenden PISA-Studien konnte ein Rückgang des Zusammenhangs festgestellt werden (PISA 2015). Eine weitere Entkoppelung des Schulerfolgs von der sozialen Herkunft bleibt jedoch wünschenswert.

Aus pädagogischer Sicht kennzeichnen Elbert und Ellinger (2006, S. 330) vier Schwerpunkte, die in Bezug auf Kinder mit Lernbehinderung besonders relevant sind:

  1. Sie benötigen systematische und sorgfältige Unterstützung beim Lernen und eine gezielte Förderung metakognitiver Fähigkeiten.
  2. Die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und dessen Selbstvertrauen müssen gestärkt werden.
  3. Lernbehinderte Kinder bedürfen intensiver Erziehung, um eine Passung mit den Anforderungen und Angeboten der Gesellschaft herzustellen.
  4. Der beruflichen Eingliederung muss besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden.

Der Begriff „Lernbehinderung“ ist in dieser Lehreinheit beibehalten, weil er in den herangezogenen wissenschaftlichen Studien noch verwendet ist. In der offiziellen Nomenklatur des Bayerischen Kultusministeriums wird er weitgehend ersetzt durch „Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen“ und die meisten „Förderschulen zur Lernförderung“ sind integriert in ein „Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Lernen“.