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§ 9 Wiederaufgreifen des Verfahrens

I. Abgrenzung

Beim Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß Art. 51 BayVwVfG geht es darum, ein bereits abgeschlossenes Verfahren wieder aufleben zu lassen. Er ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der statthaft ist, wenn andere Rechtsbehelfe nicht mehr möglich sind. Teilweise wird vertreten, dass das Wiederaufgreifen lediglich den verfahrensrechtlichen Rahmen der Rücknahme und des Widerrufs regelt. Richtigerweise ist es jedoch als selbstständiges Regelungsinstitut neben Art. 48, 49 BayVwVfG aufzufassen. Aus der enumerativen Aufzählung in Art. 43 Abs. 2 BayVwVfG lässt sich entnehmen, dass es neben der Rücknahme und dem Widerruf noch andere Möglichkeiten gibt, einen VA aufzuheben. Zudem verdeutlicht die Möglichkeit der Aufhebung eines noch anfechtbaren VAs durch Art. 48, 49 BayVwVfG, dass Art. 51 BayVwVfG einen anderen Fall der Aufhebung meint. Denn nach diesem betrifft das Wiederaufgreifen des Verfahrens nur einen unanfechtbaren VA. Auch ist Art. 51 Abs. 5 BayVwVfG dahingehend zu verstehen, dass neben dem Wiederaufgreifen des Verfahrens auch noch die Rücknahme und der Widerruf anwendbar bleiben. Daraus geht eindeutig hervor, dass Art. 51 BayVwVfG ein anderes Verfahren darstellt.

II. Voraussetzungen

Das Wiederaufgreifen des Verfahrens stellt ein zweistufiges Verfahren dar. In einem ersten Schritt entscheidet die Behörde, ob das Verfahren wieder aufgegriffen wird. Diese Prüfung gliedert sich in eine Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung des Antrags. Im zweiten Schritt wird dann in der Sache entschieden, sofern der Antrag auf Wiederaufgreifen zulässig und begründet ist.


Prüfungsreihenfolge:

Wiederaufgreifen


1. Zulässigkeit des Antrags auf Wiederaufgreifen des Verfahrens

Zur Einleitung des Verfahrens ist grundsätzlich ein Antrag des Betroffenen erforderlich. Dieser kann nur gestellt werden, wenn der Erstbescheid unanfechtbar ist. Ist der Erstbescheid noch anfechtbar, stehen dem Betroffenen die ordentlichen Rechtsbehelfe zu, so dass ein Rückgriff auf den außerordentlichen Rechtsbehelf des Wiederaufgreifens des Verfahrens nicht erforderlich ist.

Nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsverfahrens muss den Antragsteller eine Beschwer treffen. Eine solche Beschwer liegt bereits dann vor, wenn ein belastender VA an ihn gerichtet wurde oder ein VA, der zwar begünstigend ist, jedoch dem Antragssteller weniger gewährt als er gefordert hat. Die Beteiligtenfähigkeit richtet sich beim Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach Art. 11 ff. BayVwVfG. Zu beachten ist, dass das Wiederaufgreifen kein gerichtliches Verfahren ist und demnach §§ 61 ff. VwGO nicht anwendbar sind.

Fraglich ist, ob das reine Geltendmachen eines Grundes für das Wiederaufgreifen ausreicht oder ob die Gründe bei Beurteilung der Zulässigkeit einer Schlüssigkeitsprüfung unterzogen werden müssen. Schlüssigkeit liegt vor, wenn die vorgetragenen Gründe tatsächlich den Anspruch begründen würden. Eine umfassende Prüfung des Vorliegens der Gründe für das Wiederaufgreifen scheidet aus, da ansonsten die Begründetheitsprüfung des Antrags in die Zulässigkeit gezogen würde. Für Nr. 2 fordert das BVerwG jedoch eine Schlüssigkeitsprüfung, d.h. die neuen Beweismittel müssten den Anspruch des Antragstellers begründen. Konsequenterweise sollte aufgrund der Anlehnung des Verfahrens an die ZPO eine solche Schlüssigkeitsprüfung, die im Zivilprozessrecht erforderlich ist, auch für die anderen Wiederaufgreifensgründe anfallen.

Art. 51 Abs. 3 BayVwVfG normiert eine Antragsfrist. Danach muss der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens innerhalb von drei Monaten ab dem Tage, an dem der Betroffene Kenntnis von dem Wiederaufgreifensgrund erlangt hat, gestellt werden.

Nach Art. 51 Abs. 2 BayVwVfG ist ein Antrag nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen. Grobes Verschulden liegt vor, wenn der Betroffene mit Vorsatz oder grob fahrlässig gehandelt hat. Dies liegt vor, wenn der Betroffene von einem Beweismittel Kenntnis hat, sich um dieses nicht kümmert oder wenn der Betroffene weiß, dass sich die Sach- oder Rechtslage bald ändert. In einem solchen Fall ist der Betroffene nicht schutzwürdig, so dass eine Präklusion eintritt.

Art. 51 Abs. 4 BayVwVfG regelt die örtliche Zuständigkeit der Behörde, bei der der Antrag auf Wiederaufgreifen gestellt werden muss. Sachlich zuständig ist die Behörde, die nach dem einschlägigen Fachrecht zuständig ist.

2. Begründetheit

Der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ist begründet, wenn ein Grund für das Wiederaufgreifen vorliegt und der Antrag auf diesen Grund gestützt ist.

Die Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens sind in Art. 51 Abs. 1 BayVwVfG geregelt. Nach Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG ist eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage zugunsten des Betroffenen ein Grund für das Wiederaufgreifen. Eine Änderung der Sachlage kann z.B. eintreten, wenn neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen. Die Rechtslage ist geändert, wenn Außenrecht sich verändert hat. Gerichtsentscheidungen fallen grundsätzlich nicht darunter, es sei denn sie haben die Aufhebung einer Rechtsnorm zur Folge. Der EuGH hat zudem in seinem Kühne & Heitz Urteil (EuGH Rs. C-452/00) entschieden, dass unter bestimmten Voraussetzungen aufgrund des Grundsatz zur Gemeinschaftstreue (Art. 5 Abs. 2 EUV) die Mitgliedstaaten verpflichtet sein können, bestandskräftige Urteile zu überprüfen, um der durch den EuGH vorgenommenen Auslegung Rechnung zu tragen. Die vom EuGH entschiedenen Voraussetzungen sind:

· dass die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen,

· die Entscheidung infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalem Gerichts bestandskräftig geworden ist,

· das Urteil, wie eine Entscheidung des EuGH belegt, auf einer unrichtigen Auslegung des Unionsrechts beruht, die erfolgt ist, ohne dass der EuGH um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 234 Abs. 3 AEUV erfüllt war und

· der Betroffene sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichthofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt hat.

Liege diese Voraussetzungen vor, stellt ein EuGH-Urteil eine Änderung der Rechtslage dar.

Art. 51 Abs. 1 Nr. 2 BayVwVfG normiert das Vorliegen neuer Beweismittel als Grund für das Wiederaufgreifen. Neue Beweismittel liegen entweder vor, wenn neue Erkenntnismittel zur Auswertung von Tatsachen vorliegen, die sich zwar auf Tatsachen beziehen, die bereits im Zeitpunkt des Erlasses des VAs vorlagen, jedoch erst jetzt entsprechend „erkannt“ werden können. Oder es liegen neue Beweismittel vor, die erst nach Abschluss des ursprünglichen Verfahrens bekannt wurden oder beigebracht werden konnten.

Art. 51 Abs. 1 Nr. 3 BayVwVfG verweist auf die Gründe für das Wiederaufgreifen der ZPO. Dieser Grund weist noch einmal explizit auf die Ähnlichkeit des Verfahrens mit dem der ZPO hin, dennoch spielen die Gründe für das Wiederaufgreifen nach der ZPO nur eine untergeordnete Rolle.

Nach der ZPO kann ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach folgenden Gründen erfolgen:

· wenn der Gegner durch Beeidigung einer Aussage, auf die das Urteil gegründet ist, sich einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht schuldig gemacht hat

· wenn eine Urkunde, auf die das Ureteil gegründet ist, fälschlich angefertigt oder verfälscht war

· wenn bei einem Zeugnis oder Gutachten, auf welches das Urteil gegründet ist, der Zeuge oder Sachverständige sich einer strafbaren Verletzung der Wahrheitspflicht schuldig gemacht hat

· wenn das Urteil von dem Vertreter der Partei oder von dem Gegner oder dessen Vertreter durch eine in Beziehung auf den Rechtsstreit verübte Straftat erwirkt ist

· wenn ein Richter bei dem Urteil mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf den Rechtsstreit einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten gegen die Partei schuldig gemacht hat

· wenn das Urteil eines ordentlichen Gerichts, eines früheren Sondergerichts oder eines Verwaltungsgerichts, auf welches das Urteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftiges Urteil aufgehoben ist

· wenn die Partei ein in derselben Sache erlassenes, früher rechtskräftig gewordenes Urteil oder eine andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde

· wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.

3. Prüfungsschema der Zulässigkeit und Begründetheit des Antrags auf Wiederaufgreifen:

A. Zulässigkeit

· Antrag

· Unanfechtbarkeit des Erstbescheids

· Beschwer

· Beteiligtenfähigkeit

· Geltend machen eines Wiederaufgreifensgrundes

· Wahrung der Antragsfrist

· Präklusion der Wiederaufgreifensgründe

· Zuständige Behörde

B. Begründetheit

· Nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage

· Vorliegen eines neuen Beweismittels

· Wiederaufnahmegrund entsprechend § 580 ZPO

III. Rechtsfolge

Ist der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zulässig und begründet, muss die Behörde in dem Verfahren erneut entscheiden. Diesbezüglich steht ihr kein Ermessen zu. Diese erneute Entscheidung führt zu einer Durchbrechung der Bestandskraft des Erstbescheids.

Rechtsgrundlage für den sogenannten Zweitbescheid ist nach Ansicht der Rechtsprechung und der überwiegenden Ansicht im Schrifttum das jeweilige Fachrecht. Dabei sind verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten der Behörde zu unterscheiden. Die Behörde kann einen positiven Zweitbescheid erlassen, also dem Begehren des Antragstellers stattgeben. Ebenso kann die Behörde einen negativen Zweitbescheid erlassen, in dem sie dem Begehren des Antragstellers nicht statt gibt. Die Entscheidung darüber richtet sich nach dem vom Fachrecht vorgegebenen Rahmen. Ist der Behörde nach dem Fachrecht Ermessen eingeräumt, kann sie dieses beim Zweitbescheid vollständig ausnutzen. Zu beachten ist, dass allein das Vorliegen eines Grundes für das Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht dazu führt, dass das Ermessen der Behörde in eine bestimmte Richtung gelenkt wird.

Keine Rechtsfolge ist die wiederholende Verfügung, die keinen neuen VA erlässt, sondern lediglich einen unanfechtbaren VA wiederholt. Eine solche wiederholende Verfügung ist beispielsweise denkbar, wenn der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht zulässig und begründet ist und dem Antragsteller deswegen ohne erneute Entscheidung der Erstbescheid noch einmal mitgeteilt wird.

IV. Zulässigkeit einer Verböserung

Erlässt die Behörde einen negativen Zweitbescheid, kann sie den Inhalt des Erstbescheides erneut erlassen. Sie kann jedoch auch einen vom Erstbescheid weiter abweichenden Zweitbescheid erlassen. Problematisch ist an dieser Stelle, dass dies eine Verböserung gegenüber dem Erstbescheid darstellt. Ob eine solche Verböserung im Verfahren nach Art. 51 BayVwVfG zulässig ist, ist umstritten.

Teilweise wird vertreten, aufgrund des Antragscharakters des Art. 51 BayVwVfG, dass bei Vorliegen eines Wiederaufgreifensgrundes der Sachverhalt wieder zur vollständig neuen Entscheidung durch die Behörde stehe und daher eine Verböserung durch den Zweitbescheid zulässig sei. Das Ziel des Antrags ist nach dieser Ansicht nicht die Besserstellung des Betroffenen, sondern eine neue, ergebnisoffene Entscheidung in der Sache. Mit der Antragsstellung auf Wiederaufgreifen des Verfahrens geht gleichzeitig jeglicher Vertrauensschutz verloren.

Vom Sinn und Zweck her kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens mit dem Ziel gestellt wird, eine Verbesserung der Antragsberechtigung zu erreichen und nicht mit dem Ziel, eine generelle neue Sachentscheidung mit Ergebnisoffenheit zu erreichen. Deswegen ist davon auszugehen, dass eine Verböserung im Zweitbescheid nicht möglich ist.

V. Vertrauensschutz bei Drittbegünstigung

Problematisch ist, ob bei einem Wiederaufgreifen des Verfahrens und bei einem vom Erstbescheid abweichenden Zweitbescheid nicht ein Dritter, der durch den Erstbescheid begünstigt wurde, schützenswert ist, wenn durch den Zweitbescheid die Begünstigung wegfällt. Art. 51 BayVwVfG sieht keine Vertrauensschutzregeln vor, auf die sich der Dritte in diesem Falle berufen könnte, so dass nur generell eine Berücksichtigung des schutzwürdigen Vertrauens im Rahmen der Ermessensausübung der Behörde in Betracht kommt. Da sich der Erlass des Zweitbescheides jedoch nach dem einschlägigen Fachrecht richtet, kann es sein, dass bei zwingenden Vorschriften, die kein Ermessen eröffnen, die Behörde kein Ermessen ausübt und auch kein schutzwürdiges Vertrauen Dritter berücksichtigen kann. Teilweise wird vorgeschlagen, Art. 50 BayVwVfG analog heranzuziehen. Eine analoge Anwendung des Art. 51 BayVwVfG scheidet jedoch aus, da Art. 50 BayVwVfG sich ausdrücklich nur auf angefochtene VAs bezieht, während Art. 51 BayVwVfG sich gerade auf VAs bezieht, die Bestandskraft haben. Insofern liegen zwei nicht vergleichbare Sachverhalte vor, so dass eine analoge Anwendung ausscheidet. Jedoch kann, auch wenn Art. 51 BayVwVfG grundsätzlich keinen Vertrauensschutz vorsieht, das Vertrauen eines Dritten, der mit dem Wiederaufgreifen des Verfahrens nichts zu tun hatte und auch nicht damit rechnen konnte, aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht vollkommen außer Acht gelassen werden. Deswegen liegt bei schutzwürdigem Vertrauen eines begünstigten Dritten eine analoge Anwendung der Vorschriften der Art. 48 Abs. 3, 49 Abs. 5 BayVwVfG nahe.