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§ 3 Ermessen, Beurteilungsspielraum und unbestimmter Rechtsbegriff

I. Gebundene und nichtgebundene Verwaltung

Je detaillierter und bestimmter der Gesetzgeber eine Norm fasst, desto weniger Entscheidungsspielräume bleiben der Verwaltung bei ihrer Umsetzung. Besagt z.B. eine Norm, dass ein Autofahrer, der innerorts die Geschwindigkeitshöchstgrenze um bis zu 20% überschreitet, mit einem Bußgeld von 30 € zu belangen ist, ist die zuständige Behörde daran gebunden, diese Norm Wort für Wort umzusetzen. Besagt hingegen eine Norm, dass derjenige, der durch sein Verhalten ein öffentliches Ärgernis erregt hat, mit einem Bußgeld von bis zu 100 € belangt werden kann, eröffnen sich für die Behörde verschiedene Entscheidungsspielräume. Zum einen muss sie klären, was die Begriffe „Erregung“ und „öffentliches Ärgernis“ bedeuten und ob der Sachverhalt, den sie zu entscheiden hat, unter diese Begriffe subsumiert werden kann. Zum anderen kann sie ein Bußgeld erheben, d.h. sie muss dies nicht zwingend tun und sie kann, falls sie sich für die Erhebung eines Bußgelds entscheidet, wählen, in welcher Höhe dieses erhoben werden soll, solange der Höchstbetrag von 100 € nicht überschritten wird.

Die Verwaltung kann in solchen Fällen also sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenebene Entscheidungsspielräume haben. Der Sinn, warum der Gesetzgeber Kompetenzen auf die Verwaltung verlagert, liegt darin begründet, dass der Gesetzgeber der Verwaltung die Möglichkeit geben will, Einzelfallgerechtigkeit und Rationalität des Mitteleinsatzes zu wahren.

Ermessen

Im Folgenden sollen daher die verschiedenen Konstellationen, in denen der Verwaltung Handlungsspielräume eingeräumt werden, näher dargestellt werden.

II. Ermessen

1.Begriff

Neben gebundenen Entscheidungen der Verwaltung, die auf dem Tatbestand einer Rechtsnorm basieren, an den der Gesetzgeber zwingend eine konkrete Rechtsfolge geknüpft hat, kann die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen auch Ermessensentscheidungen treffen. Ermessen ist die Befugnis der Verwaltung, bei Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestands zwischen verschiedenen gleichermaßen rechtmäßigen Rechtsfolgen zu wählen. Hierbei knüpft das Gesetz also an den Tatbestand nicht eine einzige Rechtsfolge, sondern überlässt es der Verwaltung selbst die Rechtsfolge zu wählen, um dadurch die im Verwaltungsrecht erforderliche Handlungsflexibilität zu gewährleisten. Die Ausübung von Ermessen kann auf zwei unterschiedliche Arten erfolgen. Zum einen kann der Verwaltung Ermessen eingeräumt werden zu entscheiden, ob sie im konkreten Fall überhaupt tätig werden soll oder nicht. In diesem Fall spricht man von sogenanntem Entschließungsermessen. Liegt es dagegen im Ermessen der Verwaltung von mehreren möglichen, zulässigen Maßnahmen im jeweiligen Einzelfall eine als Rechtsfolge zu bestimmen, so verfügt sie über Auswahlermessen. Daneben gibt es noch das sog. intendierte Ermessen, das dann vorliegt, wenn der Gesetzgeber in der entsprechenden Ermächtigungsnorm die Zielrichtung, an der sich die Ermessensentscheidung zu orientieren hat, bereits gesetzlich bestimmt hat, von der aber im Einzelfall eine abweichende Ermessensentscheidung getroffen werden kann. Dieses von der Rechtsprechung entwickelte Konstrukt wird in der Literatur vor allem deshalb weitgehend abgelehnt, weil der Gesetzgeber durch den Erlass einer Soll-Vorschrift Identisches erreichen kann.

2.Voraussetzungen

Aufgrund des Vorbehalts des Gesetzes ist die Ausübung von Ermessen an strenge Voraussetzungen geknüpft. Der Verwaltung wird nur ein Handlungs- und Entscheidungsspielraum bei der Bestimmung der an die Verwirklichung eines Tatbestandes zu knüpfenden Rechtsfolge eingeräumt, wenn dies auf eine Entscheidung des Gesetzgebers zurückzuführen ist. Dies bedeutet, dass sich die Ermessensermächtigung entweder ausdrücklich, aus der im Einzelfall einschlägigen Norm, oder vereinzelt, aus deren Gesamtzusammenhang ergeben muss. Eine ausdrückliche Ermessenermächtigung ist daran zu erkennen, dass auf Rechtsfolgenseite der jeweiligen Norm beispielsweise die Begriffe „kann“, „darf“, „ist befugt“ u. ä. verwendet werden. Gebundene Entscheidungen sind dagegen durch Ausdrücke wie „muss“, „ist zu …“ oder „darf nicht …“ usw. gekennzeichnet.

3.Bedeutung

Ziel der Ermessenseinräumung ist es, der Verwaltung die Möglichkeit zu eröffnen, flexibel auf unterschiedliche Sachverhalte zu reagieren. Die Verwaltung kann so innerhalb eines gesetzlichen Rahmens individuell und eigenverantwortlich Entscheidungen für den Einzelfall treffen, womit es ermöglicht wird, einen Ausgleich zwischen der abstrakten gesetzlichen Zielvorstellung und den konkret vorliegenden Umständen zu schaffen. Insbesondere bleibt Raum für eine Prüfung auf Zweckmäßigkeit und Billigkeit.

4.Ermessensfehler

Zu beachten ist, dass die Verwaltung in ihrer Ermessensausübung nicht völlig frei ist. Das Verwaltungshandeln muss auf eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung zurückzuführen sein. Dies ist insbesondere § 40 VwVfG zu entnehmen, nach dem die Behörde bei der Ermessensausübung „ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten“ hat. Die Verwaltung ist also insofern rechtlich gebunden, dass sie ihr Ermessen frei von Ermessensfehlern ausüben muss. Hinsichtlich der Ermessensfehler unterscheidet man vier unterschiedliche Kategorien, die zum Teil unterschiedlich bezeichnet werden.

a)Ermessensüberschreitung

Ein Fall der Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn der Behörde zwar in der einschlägigen Ermächtigungsnorm Ermessen eingeräumt wird, sie aber irrtümlich oder bewusst davon ausgeht, dass ihr ein größerer Handlungsspielraum eröffnet ist, als dies tatsächlich der Fall ist. Eine Ermessensüberschreitung ist somit nur im Bereich von Auswahlermessen möglich.

Bsp.: Die Stadtverwaltung sanktioniert das ordnungswidrige Wegwerfen einer Zigarette im Park mit einem Bußgeld von 50,- €, während die zugehörige Gebührentabelle im konkreten Fall Strafen von max. 30,- € vorsieht.

b)Ermessensnichtgebrauch

Eine behördliche Ermessensentscheidung ist dagegen aufgrund eines Ermessensnichtgebrauchs fehlerhaft, wenn die Behörde trotz einer entsprechenden Ermessensermächtigung von ihrem Ermessen keinen Gebrauch macht. Dies ist anzunehmen, wenn sich die Behörde in ihrer Entscheidung irrigerweise für gebunden hält. Im Rahmen des Entschließungsermessens, innerhalb dessen es im Ermessen der Behörde liegt, ob sie im vorliegenden Fall tätig werden soll oder nicht, ist die Entscheidung nur frei von Ermessenfehlern, wenn sie sich dieser Wahlmöglichkeit zum Zeitpunkt der Entscheidung auch bewusst war. Beim Auswahlermessen ist von einer Ermessensunterschreitung auszugehen, wenn der Behörde bei ihrer Entscheidung nicht bewusst war, dass neben der von ihr getroffenen Maßnahme weitere Handlungsalternativen zur Verfügung gestanden hätten.

c)Ermessensfehlgebrauch

Von Ermessensfehlgebrauch spricht man, wenn die Behörde ihr Ermessen entgegen dem Zweck der Ermächtigung ausübt. Hier liegt die gewählte Rechtsfolge zwar in den Grenzen der Ermächtigungsnorm, die für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkte wurden aber nicht derart in die Abwägung mit einbezogen, dass die Rechtsfolge den gesetzlich vorgesehen Zielvorstellungen entspricht. Dies ist anzunehmen, wenn nicht alle für die Entscheidung erheblichen Tatsachen ermittelt wurden, der Zweck der Ermächtigung verkannt, oder bewusst aus willkürlichen, unsachlichen Motiven gehandelt wurde.

d)Verstoß der Ermessensausübung gegen Grundrechte oder allgemeine Verfassungsgrundsätze

Zuletzt ist eine Entscheidung ermessensfehlerhaft, wenn diese zu einem Grundrechtsverstoß oder einem Verstoß gegen sonstige Verfassungsgrundsätze führt. Das Ermessen der Behörde wird folglich durch die Grundrechte, sowie insbesondere durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in objektiver Hinsicht beschränkt. Praktisch relevant ist oft die Frage, ob eine Ermessensentscheidung aufgrund eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ermessensfehlerhaft ist. Hiernach ist die Behörde nämlich verpflichtet bei gleichartigen Sachverhalten gleich zu entscheiden, sofern eine Ungleichbehandlung nicht aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist. Eine hiernach erfolgende stetige Verwaltungspraxis kann sodann zur Selbstbindung der Verwaltung führen, von der wiederum nicht ohne weiteres abgewichen werden kann.

5.Ermessensreduzierung auf Null

Wie bereits festgestellt bedeutet Ermessen, dass der Verwaltung vom Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt wird, zwischen mehreren Handlungsmöglichkeiten zu wählen. Diese Wahlmöglichkeit kann allerdings auf eine Alternative reduziert werden, sofern von den zur Verfügung stehenden möglichen Rechtsfolgen nur eine einzige ermessensfehlerfrei gewählt werden kann. Die Behörde ist dann gezwungen diese eine Entscheidung zu treffen. Sie ist somit in ihrer Ermessensentscheidung gebunden. In diesem Fall spricht man von einer Ermessensreduzierung auf Null. Eine solche liegt vor allem dann vor, wenn nur eine Entscheidung mit höherrangigem Recht in Einklang steht.

Beispiele:

(1) Die straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis wird zwar nach Ermessen erteilt, sie muss aber mit Blick auf Art. 21 I und 38 I GG für Wahlplakate politischer Parteien während des Wahlkampfes grundsätzlich ergehen.

(2) Bei Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis gem. §§ 1 I, 5 I Nr. 1, 17 i AuslG kann das bestehende behördliche Ermessen wegen Art. 6 I GG bei einem verheirateten Ausländer mit Familie dahingehend reduziert sein, dass nur noch die Entscheidung, die Aufenthaltserlaubnis zu verlängern, verfassungskonform ist.

Verkennt die Verwaltung dass die Norm, die sie anwendet, eine Ermessensvorschrift ist und macht deshalb von ihrem Ermessen keinen Gebrauch, begeht sie dann keinen Ermessensfehler, wenn ein Fall der Ermessensreduktion auf Null vorliegt, weil die Annahme der Verwaltung, dass sie in ihrer Entscheidung gebunden ist, im Ergebnis zutrifft.

6.Gerichtliche Überprüfung von Ermessen

Fraglich ist zuletzt, in wie weit Ermessensentscheidungen einer gerichtlichen Überprüfung unterliegen. Auch Ermessensvorschriften können subjektiv-öffentliche Rechte begründen. Allerdings hat der Bürger aus einer Ermessensnorm keinen Anspruch auf die Wahl einer bestimmten Handlung oder Entscheidung. Er verfügt lediglich über einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Entscheidend ist also nur, dass überhaupt eine Ermessensentscheidung der Behörde vorliegt, die zudem frei von Ermessensfehlern ist. Dementsprechend unterliegt das behördliche Ermessen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren keiner Zweckmäßigkeitsprüfung. Der Einwand, dass die Verwaltung eine unzweckmäßige oder sinnlose Ermessensentscheidung getroffen hat, ist rechtlich irrelevant. Lediglich in dem der verwaltungsgerichtlichen Klage vorgeschalteten Widerspruchsverfahren (§ 68 Abs. 1 VwGO) kann ein Verwaltungsakt auf seine Zweckmäßigkeit hin überprüft werden. Prozessual bedeutet dies, dass ein Bürger, der durch eine ermessensfehlerhafte Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist, nur eine neue, ermessensfehlerfreie Verbescheidung der Verwaltung einklagen kann, nicht aber ein bestimmtes Ziel hinsichtlich des Ausgangs des Verfahrens.

III. Beurteilungsspielraum

Beurteilungsermächtigungen sind anders als Ermessensvorschriften nicht auf der Rechtsfolgen- sondern auf der Tatbestandsseite angesiedelt. Sie räumen der Verwaltung die Befugnis ein, das Vorliegen bestimmter Tatbestandsmerkmale abschließend, d.h. ohne nachträgliche verwaltungsgerichtliche Kontrolle zu konkretisieren. Man spricht auch von Einschätzungsprärogativen. Diese müssen sich gleichsam wie die Ermessensermächtigungen unmittelbar aus einem Gesetz ableiten lassen. Dabei kommt es insbesondere darauf an, welche Rechte der Bürger durch die Maßnahme betroffen sind. Oftmals werden solche Beurteilungsspielräume in Bereichen gewährt, die spezielle Fachkenntnisse der Behörden erfordern und daher von den Gerichten ohnehin nur schwer nachgeprüft werden können (z.B. Schulnoten). Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, dass bei Entscheidungen, die sich auf Grundrechte der Bürger auswirken, nur sehr begrenzt solche gerichtlich nicht kontrollierbaren Entscheidungsfreiräume der Verwaltung geschaffen werden dürfen.

In der Rechtsprechung sind Beurteilungsspielräume in folgenden Fällen anerkannt:

(1) Prüfungsentscheidungen wie Abitur und Staatsexamen

(2) Prüfungsähnliche Entscheidungen im Schulbereich wie Versetzung

(3) Beamtenrechtliche Beurteilungen

(4) Wertende Entscheidungen weisungsfreier Ausschüsse

(5) Prognoseentscheidungen und Risikobewertungen im Umweltrecht

IV. Unbestimmter Rechtsbegriff

Neben dem Ermessen, das der Verwaltung auf Rechtsfolgenseite einen gewissen Handlungsspielraum gewährt, findet man in verwaltungsrechtlichen Normen zudem auf Tatbestandsebene unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer näheren Konkretisierung durch die Behörde bedürfen. Bei den unbestimmten Rechtsbegriffen handelt es sich also um generalklauselartige Formulierungen, die von der jeweiligen Behörde im Einzelfall auszulegen sind. Bei der Anwendung einer Norm, in der unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten sind, kann die Behörde Interpretationen der Rechtsprechung und solche aus Verwaltungsvorschriften zur Hilfe ziehen.

Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe folgt nach den allgemeinen Grundsätzen. Es kommt also etwa auf den Wortsinn, die Entstehungsgeschichte der Norm, ihren Sinn und Zweck und den systematischen Zusammenhang der Norm, aber gegebenenfalls auch auf eine verfassungskonforme Auslegung an.

Häufig wiederkehrende unbestimmte Rechtsbegriffe in Klausuren sind die polizei- und ordnungsrechtlichen Begriffe „Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ sowie der Begriff „Zuverlässigkeit“, der insbesondere im Gewerbe-, Gaststätten- und Waffenrecht von grundlegender Bedeutung ist.

Weitere Beispiele für unbestimmte Rechtsbegriffe sind: „öffentliches Interesse“, „soziale Härte“, „Einbruch der Dämmerung“, „geschlossene Ortslage“...

Unbestimmte Rechtsbegriffe unterliegen anders als Ermessens- und Beurteilungsspielräume der vollen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Das bedeutet, dass die Behörde bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe keinen Beurteilungsspielraum hat. Die Verwaltungsgerichte sind auch dann befugt, eine behördliche Entscheidung aufzuheben, wenn die behördliche Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs im konkreten Einzelfall vertretbar ist, das Verwaltungsgericht den unbestimmten Rechtsbegriff aber anders auslegt.